Da die Genommedizin international an Bedeutung gewinnt, muss sich Deutschland mit einzelnen Leuchtturmprojekten zufrieden geben. Die Forscher fordern eine nationale Strategie und Unterstützung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF).
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Die Sequenzierung des gesamten Genoms (WGS) oder der kodierenden Genregionen (Exome) wird immer kostengünstiger und schneller. Vor allem Krebspatienten und seltene Krankheiten könnten davon profitieren. Forschungsführende Länder wollen die Genommedizin in größerem Umfang nutzen. England ist der Vorreiter. Im Jahr 2012 startete hier ein Projekt mit dem Ziel, 100.000 Genome zu sequenzieren. Die Daten sollen die Patientenversorgung verbessern und die Entwicklung neuer Medikamente anregen. „Aufgrund des enormen Forschungs- und Aufklärungspotenzials wird die Sequenzierung des gesamten Genoms derzeit auf fünf Millionen Analysen ausgeweitet“, kündigte Tim Hubbard, Leiter der Genomanalyse beim Genomics England Project und Professor für Bioinformatik an der University of England, auf einem Workshop an. King's College London. der TMF-Technologie Anfang Juni und der Methodenplattform für vernetzte medizinische Forschung in Berlin.
globale Investitionen
Auch im Angebot ist das Vereinigte Königreich führend. Im Oktober 2018, nach sechs Jahren der Tests, führte der NHS als erstes Land der Welt die Sequenzierung des gesamten Genoms für die routinemäßige genetische Diagnostik ein. Einige europäische Länder und die USA verfolgen ähnliche Ziele und haben geplante Strategien mit Budgets in dreistelliger Millionenhöhe. China kündigte die mit Abstand größte Investition an. Die Volksrepublik will mit rund sieben Milliarden Euro die Weltspitze übernehmen (siehe Bild).
Die Experten des TMF-Workshops warnten, dass Deutschland dieser internationalen Entwicklung weit hinterherhinke. „Art und Umfang der Genomdiagnostik in Deutschland sind im internationalen Vergleich nicht mehr zeitgemäß“, sagte Prof. Dr. Re. Natürlich forderte Michael Krawczak, Vorstandsvorsitzender der TMF, eine nationale Strategie zur Einführung der Genommedizin in Deutschland.
Die Abseitsstellung Deutschlands spiegelt sich auch in der Europäischen Allianz für personalisierte Medizin wider. Hier haben sich 13 Länder darauf geeinigt, bis 2022 mindestens eine Million Genome zu sequenzieren, in allen Ländern zu speichern und für die Analyse bereitzustellen. Nur wenige Länder haben die MEGA-Initiative (Million European Genome Alliance) nicht unterzeichnet, darunter auch Deutschland.
Die Bundesregierung habe Beobachterstatus, teilte das BMBF auf Anfrage mitDeutsche medizinische Fachzeitschrift(DÄ) mit. Das Ministerium begründete die Ablehnung der MEGA-Erklärung mit dem geforderten „besonders hohen Maß an Interoperabilität“ und „Datenschutz“. Jetzt geht es darum, zukünftige Kooperationsmodelle zu gestalten. „Um diesen Prozess mitzugestalten, wird das BMBF im darauffolgenden Arbeitsgruppenprozess mit dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) zusammenarbeiten“, erklärte das BMBF. Darüber hinaus wird das BMBF die Genomsequenzierung im Rahmen einer Reihe seiner Förderinitiativen bereits umfassend unterstützen (z.B. e:med, siehe Tabelle). Auch die 2018 ausgerufene „Dekade gegen Krebs“ bietet einen Spielraum, den das BMBF nicht konkretisiert hat: „Im Rahmen der offenen Themenleitlinien ist grundsätzlich auch die Förderung von Forschungsvorhaben zum Thema Initiativen/Datenbanken denkbar. Genomdaten“ .
„Es ist unverständlich, warum Deutschland die Teilnahme an MEGA verweigert“, kritisierte Prof. Dr. DR. Olaf Riess vom Universitätsklinikum Tübingen. Datenschutz sei ein „vorgebrachtes Argument“, so der Direktor des Instituts für Medizinische Genetik und Angewandte Genomforschung. „Schließlich tragen wir im Rahmen europäisch geförderter Projekte seit Jahren Genomdaten in europäische Datenbanken ein“, erklärte Rieß. Der von Deutschland in MEGA ausgeübte Beobachterstatus garantiert sein Stimmrecht. „Am Ende der Debatte haben wir keinen Einfluss auf die konkrete Ausgestaltung der Rahmenbedingungen“, sagte der Mediziner. Wäre die Erklärung unterzeichnet worden, wäre Deutschland nicht zur Eingabe von Daten verpflichtet gewesen. Er ist davon überzeugt, dass das BMBF die Genomforschung in Deutschland verhindert und dies wohl auch in Zukunft tun wird.
Löschung der Genomdatenbank.
Rieß stützt seine Vermutung auf die Antwort des BMBF auf einen Antrag für ein deutsches Genomprojekt, das sowohl vom Verband Deutscher Universitätsklinika als auch vom Medizinischen Fakultätentag gefördert wurde. Ziel der angestrebten Deutschen Genominitiative war es, ein einheitliches Bild klinischer Genomdaten in Deutschland zu etablieren. In der Absage des BMBF vom 2. Mai 2019 heißt esDÄvorhanden seien, sagt er: Grundsätzlich sehen sie in der Kombination genomischer Daten mit phänotypischen und klinischen Daten „große Chancen, das Verständnis besonders komplexer Krankheitsbilder zu verbessern und neue Therapieansätze zu entwickeln.“ Über bestehende Förderprojekte hinaus seien innerhalb der Genomforschung allerdings „keine neuen Initiativen geplant“.
Genomdatenbanken sind ein wichtiger Bestandteil bei der Identifizierung krankheitsverursachender Mutationen. Neuen Studien zufolge können bei etwa der Hälfte aller Patienten mit Verdacht auf genetische Entwicklungsstörungen mittels WGS ursächliche Mutationen in bekannten krankheitsassoziierten Genen gefunden werden, heißt es in einer Veröffentlichung von Prof. Dr. Geschäftsführer Hans-Hilger Ropers, emeritierter Direktor von Max. Planck-Institut für Molekulare Genetik in Berlin. Bisher sind Mutationen in mehr als 4.000 der 20.000 menschlichen Protein-kodierenden Gene bekannt. Um BMG und BMBF über das Potenzial und die politische Notwendigkeit zum Handeln zu verdeutlichen, kündigte Krawczak beim TMF-Workshop die Einrichtung einer Expertengruppe an. Dieser soll eine Strategie für Deutschland entwickeln.
Genomanalysen dienen jedoch nicht nur der Forschung. Das Beispiel England macht deutlich, dass die Sequenzierung auch die Pflege von Kranken umfassen wird. Sinkende Kosten machen es überhaupt erst möglich. Beim TMF-Workshop präsentierte Humangenetiker Prof. Dr. Han Brunner von der Radboud-Universität Nijmegen, Niederlande, dass der Preis pro Genom seit 2001 um den Faktor 100.000 gesunken sei. Niederländische Ärzte können das Genom jetzt für 1.500 Euro sequenzieren, erklärte Brunner. Durch kürzlich eingeführte chinesische Konkurrenzprodukte seien weitere Kostensenkungen zu erwarten, sagt Gerhard Schillinger, Leiter des Ärzteteams der AOK. Die neuesten High Throughput DNA Sequencers (HDS) werden immer effizienter. In Deutschland verfügen neben Tübingen noch vier weitere Universitätskliniken über moderne HDS-Einheiten, die etwa eine Million Euro kosten und eine WGS von 6.000 Genomen pro Jahr ermöglichen Gerät, berichtete der Humangenetiker Rieß.
begrenzte Rückzahlungen
Auch in Deutschland gehört Next-Generation-Sequencing bereits zur Regelversorgung. Im Gegensatz zu England sieht der einheitliche Standard (EBM) keine WGS für Ärzte vor, sondern nur die Sequenzierung eines Genpanels von bis zu 25 Kilobasen (kb) kodierender Sequenzen pro Jahr (GOP 11513). Das entspricht durchschnittlich vier Genen und kostet die Krankenkasse inklusive Materialkosten und Befund 2.850 Euro. Allerdings seien die meisten Krankheiten deutlich heterogener, so Rieß, der auch Sprecher des Tübinger Zentrums für Seltene Erkrankungen ist: Bei manchen geistigen Behinderungen könne es notwendig sein, etwa 1.000 Gene zu analysieren. „Die Begrenzung des Gemeinsamen Bundesausschusses auf 25 KB ist willkürlich“, kritisierte Rieß. „Wir könnten ohne zusätzlichen Aufwand und ohne zusätzliche Kosten viel mehr Gene analysieren.“ Schillinger bestätigte weiter, dass für einen Preis von fast 3.000 Euro in den Niederlanden fast zwei Exome von jeweils 50.000 kb sequenziert werden könnten, also 25 kb auf der ganzen Welt. 2000 mal übertrifft.
Wenn Ärzte in Deutschland mehr als 25 kb sequenzieren wollen, müssen sie eine außerbudgetäre Leistung bei der Krankenkasse des Patienten beantragen (GOP 11449 und 11514). Dem Antrag liegt auch ein wissenschaftlicher Bericht gemäß GOP 11304 bei.
Auf die Frage von vier großen Krankenkassen wird deutlich, dass diese sich auf die Erstattungsempfehlung des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) beziehen. Nach Angaben des Medizinischen Dienstes im Zentralverband der Krankenkassenverbände (MDS) hat der MDK in den Jahren 2017 und 2018 bundesweit rund 2.200 Versicherungserklärungen ausgestellt. Die MDK-Experten gingen davon aus, dass die Voraussetzungen für die Leistungsgewährung in 13 Prozent der Fälle erfüllt waren, in etwas weniger als zwei Prozent hielten sie sie für teilweise erfüllt; 79 Prozent hätten die Anforderungen nicht erfüllt. Die Leistungsentscheidung trifft die Krankenkasse. Ein völlig anderes Bild zeigen die Abrechnungsdaten der Häufigkeitsstatistik der gesetzlichen Krankenversicherung der AOK (WIdO). Demnach übernahmen die Krankenkassen im Jahr 2017 die Kosten von 27 Prozent von 941 Anfragen. In den ersten drei Quartalen 2018 verdoppelte sich die Quote: Nur etwa die Hälfte der 1.000 Anträge wurde abgelehnt. Die von MDS übermittelten Daten zeigen jedoch keinen vergleichbaren Trend.
Der MDK lehnt beispielsweise ab, wenn im Antrag nicht angegeben ist, nach welcher Krankheit gesucht werden soll und wie diese zu behandeln ist. Es teilt MDSDÄEs wurde außerdem darauf hingewiesen, dass keine Empfehlung für Anträge ausgesprochen wurde, die darauf hindeuteten, dass eine genomweite Analyse erforderlich sei. „Denn die (Routine-)Analyse des gesamten Genoms geht über das nach aktuellem medizinischen Wissen erforderliche Maß hinaus und ist daher als unnötig, also auch unwirtschaftlich, einzustufen“, begründete MDS. Eine Sprecherin der DAK-Gesundheit bestätigte: „Nach unserem Kenntnisstand lehnt die MDK Versuche ab, die Exomdiagnostik vor 11514 abzurechnen. Der verpflichtende Inhalt des Dienstes sieht vor, dass jedes untersuchte Gen einen Namen und eine Begründung haben muss – dies ist ungerichtet kaum möglich.“ Untersuchung als Exomdiagnose“.
Exomanalysen sind möglich.
Erstmals in Deutschland wurden im vergangenen Jahr in neun Zentren für seltene Erkrankungen Exomanalysen durchgeführt. Im Projekt Translate-NAMSE-Innovationsfonds haben sich viele Krankenkassen zur Kostenübernahme auf Antrag verpflichtet, allen voran die AOK und die Barmer. Da die Exomsequenzierung in eine spezielle Struktur mit einem interdisziplinären Expertengremium eingebettet sei, sei MDK nicht beteiligt, erklärte Schillinger. Die erste Evaluierung des gesamten Konsortiums sei letzte Woche erfolgt, berichtete Prof. Dr. Arzt Heiko Krude von der Charité – Universitätsmedizin Berlin, Koordinator von T-NAMSE: „Seit Juli 2018 haben AOK und Barmer rund 150 Anträge auf Exomanalysen (95 Prozent) bewilligt und sind bereits abgeschlossen. Wir konnten eine eindeutige Diagnose stellen.“ 30 Prozent der 150 Patienten, was für seltene Erkrankungen eine sehr gute Quote ist.“ die Krankenkassen lagen bei 50 Prozent. Um das Projekt bundesweit umzusetzen, wird die AOK Nordost einen Selektivvertrag entwickeln, an dem alle Krankenkassen und Leistungserbringer teilnehmen können, die die Förderkriterien erfüllen. Qualität, versprach Schillinger.Katharina Giesselmann
Internationale Strategien
2012
In England initiiert die Regierung das „Genomics England Project“. 100.000 Genome werden sequenziert. Budget: knapp 340 Millionen Euro
2013
Das BMBF veröffentlicht einen „Aktionsplan Individualisierte Medizin“. WGS erhielt keine Förderung. Budget bis 2016: bis zu 360 Millionen Euro
2014
Die französische Regierung ergreift die Initiative für „France Médecine Génomique 2025“. Unter anderem sollen innerhalb von sieben Jahren 12 Sequenzierungsplattformen und eine zentrale Datenbank entstehen. Geplant ist die Schaffung eines Zentrums für Genommedizin. Budget: 670 Millionen Euro
2015
Die USA starten das Precision Medicine Program, um die Humangenetik voranzutreiben und gezielte Behandlungen gegen Krebs zu entwickeln. Ursprüngliches Budget: rund 176 Millionen Euro
2016
Die chinesische Regierung startet das „Precision Medicine Program“ mit einer Laufzeit von 15 Jahren. Sie wollen die globale Führung übernehmen. Budget: rund 7 Milliarden Euro
2017
Veröffentlichung der MEGA-Initiative, die im April 2018 von 13 europäischen Ländern unterzeichnet wird. Deutschland gehört nicht dazu, hat aber Beobachterstatus.
2018
- Im Juni startet die US-Regierung das All of Us-Projekt. Die Genome von einer Million Freiwilligen werden sequenziert.
- Bis September wurden in England 81.000 Genome sequenziert: mehr als 64.000 zur Untersuchung seltener Krankheiten und fast 17.000 zur Untersuchung von Tumoren.
- Seit Oktober bezieht der NHS WGS in routinemäßige genetische Diagnosen ein.
- Im Rahmen von e:Med wurden zwischen 2012 und 2018 in Deutschland 1.100 menschliche Genome sequenziert.
Fuentes:
- Ropers HH: Medizinische Genomsequenzierung: Warum Deutschland nicht länger außen vor bleiben darf. Konrad-Adenauer-Stiftung, Analyse und Argumente 2018.
- Denis Horgan D, Romao M, Hastings R: Überbrückung der Themen: MEGA-Schritte zur Förderung der europäischen Genomik und personalisierten Medizin. Biomedizinisches Zentrum 2017; 2 (Tillæg 1): 481300